„Mehr Archivierung wagen“
- 20. Februar 2019 - Allgemein, Archive, Vereine, Museen, Hamburg, Historische Dokumente
Archive und insbesondere natürlich die darin aufbewahrten Dokumente sind für die Ahnenforschung unentbehrlich. Kaum eine unserer Recherchen wäre ohne sie denkbar. Aber auch jenseits der Ahnen- und Familienforschung erfüllen Archive Funktionen als Informationsspeicher und Orte der Erinnerungskultur.
Leider ist es aus Platz- und Kostengründen nicht möglich, alles aufzubewahren. Jedes Archiv muss daher die Ihnen angebotenen Bestände bewerten, also eine Auswahl treffen. Jede Kassation (Vernichtung) führt immer auch zu einem Informationsverlust. Die Frage ist, wie schwer dieser wiegt. Daher muss darüber entschieden werden, was archivwürdig ist und was nicht. Hierzu sind beispielsweise Quellen- und Erkenntniswert heranzuziehen. Ein Problem stellt dabei eine möglicherweise unterschiedliche Bewertung zu unterschiedlichen Zeiten und durch unterschiedliche Personen(gruppen) dar. Blickwinkel und Forschungsinteressen ändern sich.
Leider kommt es vor, dass Unterlagen vernichtet werden, deren Erhaltung unbedingt wünschenswert gewesen wäre.
In der Ahnenforschung stellen wir immer wieder fest, dass Bestände, die für unsere spannende Detektivarbeit sehr hilfreich gewesen wären, nicht aufbewahrt werden. Das können Akten zu einzelnen Adoptions- oder Gerichtsverfahren sein oder beispielsweise auch die Sammelakten, die in der Regel zu jeder Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunde angelegt werden. Viele Archive übernehmen diese Sammelakten nach den Aufbewahrungsfristen nicht, andere treffen Auswahlentscheidungen, verwahren beispielsweise nur die Sammelakten bestimmter Standesämter oder Jahrgänge. Für uns ist dies oft sehr bedauerlich.
In Hamburg hat eine Bewertungsentscheidung des Staatsarchivs 2018 für erhebliche Unruhe gesorgt (hier die Stellungnahme des Vereins für Hamburgische Geschichte, sowie Artikel der taz und des Hamburger Abendblatts). Sie wurde sogar Thema der Hamburgischen Bürgerschaft.
Was ist passiert? Eine Million ärztlicher Todesbescheinigungen aus den Jahren 1876 bis 1953 (ca. 45 laufende Meter) wurden unwiederbringlich vernichtet. Fälschlich wurde den Unterlagen der Mehrwert abgesprochen (hier die Stellungnahme des Staatsarchivs Hamburg vom 27. Juli 2018). Tatsächlich enthalten sie wichtige Informationen zu Todesursachen und vor allem Ärzten, die nicht nur, aber unter anderem für die Aufklärung von Euthanasie-Fällen während des Nationalsozialismus große historische Bedeutung hatten und weiterhin gehabt hätten. Vor allem handelte es sich aber um einen regelmäßig und häufig genutzten Bestand und die Vernichtung entzieht der Forschung im Nachhinein die Grundlage.
Am 19. Februar 2019 fand zu diesem Thema unter dem Titel „Geschredderte Geschichte. Wie gehen wir mit unserem historischen Erbe um?“ eine interessante Podiumsdiskussion der Patriotischen Gesellschaft von 1765 und des Vereins für Hamburgische Geschichte statt. Neben dem Amtsleiter des Staatsarchivs Hamburg, Dr. Udo Schäfer, waren PD Dr. Kirsten Heinsohn von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Prof. Dr. Dr. Rainer Hering vom Landesarchiv Schleswig-Holstein, Prof. Dr. Rainer Nicolaysen von der Universität Hamburg und erster Vorsitzender des Vereins für Hamburgische Geschichte, sowie die Geschichtspädagogin Frauke Steinhäuser, die sich u.a. für die Hamburger Stolpersteininitiative engagiert, zugegen.
Alle Beteiligten waren sich einig, dass die Vernichtung der Unterlagen nicht hätte passieren dürfen und dass sich eine solche „Katastrophe“ nicht wiederholen soll. Auch das Staatsarchiv Hamburg hat in der Zwischenzeit eingestanden, dass der Bestand mittlerweile anders bewertet werden würde (hier die Stellungnahme vom 15. Oktober 2018).
Aber wie konnte es dazu kommen und wie lassen sich entsprechende Fehler in Zukunft verhindern? Dr. Udo Schäfer räumte Verfahrensfehler ein. So wurde ein Schritt im Entscheidungsprozess, der die Vernichtung höchstwahrscheinlich verhindert hätte, versehentlich übersprungen. Stimmen gegen die Vernichtung wurde nicht oder zu spät gehört. In Zukunft soll das Verfahren daher verbessert und Kontrollmechanismen eingebaut werden. Auch sollen größere Vernichtungsentscheidungen in stärkerem Maße vorab öffentlich gemacht werden. Zudem wurde eine externe Expertenrunde eingerichtet, die beratend tätig sein soll. Ihr gehören Vertreter verschiedener historischer Institutionen an, darunter mittlerweile auch die Genealogische Gesellschaft Hamburg. Wie langfristig eine solche Expertenrunde sinnvoll ist, muss sich zeigen.
Einig war man sich, dass Nachkassationen (also die Vernichtung von Unterlagen, die übernommen und ggf. sogar bereits benutzt wurden) unüblich sind und nur im äußersten Notfall stattfinden sollten. Auch sollten Unterlagen, die den Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland betreffen besonders genau geprüft werden sowie keine Vernichtung stattfinden, wenn ein direkter Zusammenhang zu Euthanasie besteht.
Aufgeworfen wurde auch die Frage nach historischer Expertise im Archiv und wie diese weiter verbessert werden kann. Angeregt wurde beispielsweise, dass das Staatsarchiv Hamburg wieder in stärkerem Maße in den eigenen Beständen forschen sollte.
Bereits zu Beginn der Diskussion hatte Prof. Dr. Dr. Rainer Hering in Anlehnung an Willy Brand davon gesprochen, dass vielleicht „mehr Archivierung“ gewagt werden müsse. Wie genau dies aussehen könnte, lässt sich nach der Diskussion nicht eindeutig sagen. Der Abend hat aber in jedem Fall deutlich gemacht, dass es wichtig ist, sich mit Bewertungsprozessen auseinanderzusetzen. Archive sind das Gedächtnis unserer Gesellschaft und, wie Prof. Dr. Dr. Hering ebenfalls feststellte: Was nicht archiviert wird, wird auch nicht erinnert.
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