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Verrückte Zeiten: Wie Deutschland vor 1893 mit über 30 Zeitzonen umging!

Andrea Bentschneider - 08. April 2023 - Allgemein, Wissen, Historische Ereignisse, Jubiläum

Stellen Sie sich vor, Sie leben im Deutschland des 19. Jahrhunderts und müssen sich bei jeder Reise innerhalb des Landes auf eine andere Zeitzone einstellen. Das war bis zur Einführung einer einzigen Zeitzone vor genau 130 Jahren Realität. Doch wie kam es dazu?

Die Welt hat sich seit 1893 deutlich verändert. Vor diesem Jahr gab es mehr als 30 Zeitzonen in Deutschland, d.h. Reisende mussten ständig ihre Uhren umstellen, denn fast jeder Ort hatte eine eigene Zeitzone! Machen Sie sich bereit für eine Reise in die Vergangenheit, um zu erfahren, wie Deutschland mit den Herausforderungen der Zeitmessung umging!

Damals richteten sich die Zeiten u.a. nach dem Sonnenstand an den Kirchtürmen. Und so kam es zu dem Umstand, dass es in Deutschland über 30 Zeitzonen gab, denn das Deutsche Reich erstreckte sich über insgesamt 17 Längengrade und jeder Längengrad bedeutete einen Unterschied von jeweils 4 Minuten. Von der West- bis zur Ostgrenze des deutschen Reiches gab es somit einen Unterschied von 67 Minuten.

Konkret bedeutete das: wenn es 12:00 Uhr in Düsseldorf war, dann war es 12:07 Uhr in Karlsruhe, 12:08 Uhr in Frankfurt, 12:20 Uhr in München und 12:27 Uhr in Berlin. Allein bei einer Reise um den Bodensee durfte man sechsmal seine Uhr umstellen.

Das war zunächst einmal kein großes Problem, denn nur wenige Menschen haben ihre Heimat verlassen. Und die Reise zu Fuß oder per Pferd bzw. Kutsche war nicht so schnell, als dass die Reisenden die Zeitunterschiede wirklich merkten. Erst mit dem Ausbau des Schienennetzes der Eisenbahn ab den 1840er Jahren begann es kompliziert zu werden.

 

 

Deutsche Verwaltung und Verkehr in einer überfüllten Zeitzonensituation

In einer Zeit, in der Deutschland mit über 30 verschiedenen Zeitzonen umging, war die Verwaltung und der Verkehr eine Herausforderung. Es gab keine einheitliche Regelung und jeder Ort entschied selbst, welche Zeitzone er nutzen wollte. Das führte zu Verwirrung und Problemen im Verkehr, da Züge und Postkutschen stets unterschiedliche Zeiten hatten.

Bereits 1848 einigte man sich zumindest in Preußen auf eine einheitliche Zeit für die Eisenbahnfahrpläne, die sich nach der Zeit in Berlin orientierten. Das galt allerdings nur für Preußen.

Daher wurde für die Bahnreisen bereits am 01. Juni 1891 die sogenannte mitteleuropäische Eisenbahn-Zeit eingerichtet, die sich am 15. Längengrad orientierte, an der sich auch Österreich-Ungarn beteiligte.

Auch die Wirtschaft litt unter den unterschiedlichen Zeitzonen, da es schwierig war, Geschäftsbeziehungen aufrechtzuerhalten und zu koordinieren. Hinzu kamen politische und gesellschaftliche Konflikte, da sich die verschiedenen Regionen oft nicht einigen konnten, welche Zeit die richtige war.

Der Weg zur Einführung einer einzigen Zeitzone 1893

Alle 17,7 Kilometer etwa änderte sich die Zeit um 1 Minute mehr oder weniger, abhängig davon ob man nach Osten oder Westen reiste. Das war bis zur Einführung einer einzigen Zeitzone im Jahr 1893 Realität. Doch wie kam es dazu? Die Idee einer einzigen Zeitzone wurde bereits in den 1870er Jahren diskutiert, aber erst 1891 von der Deutschen Seewarte in Hamburg konkretisiert.

Zwar einigten sich bereits 1884 insgesamt 25 Staaten auf der Meridian-Konferenz in Washington, DC, dass es eine Weltzeit mit insgesamt 24 Zeitzonen geben solle, die jeweils einen Unterschied von 1 Stunde haben würden. Auch ein Abgesandter aus Deutschland nahm an der Konferenz teil und stimmte für die Einführung dieser Zeitzonen.

Dennoch ließ man sich noch ganze 9 Jahre Zeit, ehe eine einheitliche Zeitzone für Deutschland gesetzlich verordnet wurde. Der Grund war rein eitler Natur: dem deutschen Kaiser widerstrebte es, dass der Null-Meridian in Greenwich, England liegen solle und nicht in Berlin!

Dann endlich kam der Entscheidung: Es wurde beschlossen, dass die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) als Standardzeit für Deutschland gelten sollte. Am 1. April 1893 wurde sie schließlich offiziell durch den deutschen Kaiser eingeführt.

Der genaue Wortlaut des Reichs-Gesetzblatts Nr. 7 lautete wie folgt:

„Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen, verordnen im Namen des Reichs: Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich. Dieses Gesetz tritt mit dem Zeitpunkt in Kraft, in welchem nach der festgelegten Zeitbestimmung der 1. April 1893 beginnt.“

Die Einführung war jedoch nicht ohne Widerstand. Viele Menschen waren skeptisch gegenüber der Idee einer einzigen Zeitzone und befürchteten, dass es zu Verwirrungen kommen würde. Doch letztendlich erwies sich die Einführung der MEZ als erfolgreich und wurde schließlich auch von anderen Ländern übernommen. Heute können wir uns kaum vorstellen, wie es wäre, in einem Land mit über 30 verschiedenen Zeitzonen zu leben.

Die Einführung der MEZ war somit ein wichtiger Schritt in Richtung internationaler Koordination und Kommunikation, da es nun möglich war, Termine und Zeitpläne in verschiedenen Ländern aufeinander abzustimmen. Heute ist die MEZ die Standardzeit in den meisten europäischen Ländern und wird auch in anderen Teilen der Welt als Basis für die Berechnung von Zeitzonen verwendet.

 

 

Offenbar gab es schon in der Vergangenheit keine perfekte Lösung mit unterschiedlichen Zeitmessungen und deren Standardisierung umzugehen. Die Einführung der Mitteleuropäischen Zeit (MEZ) war ein Kompromiss, der auf politischen und wirtschaftlichen Überlegungen beruhte. Bis heute löst aber auch diese Regelung Diskussionen und Debatten aus. Einige Länder arbeiten zusätzlich mit Sommer- und Winterzeit, andere nicht. Zumindest in Europa ist angedacht, sich wieder auf eine Zeit für das ganze Jahr zu einigen, was allerdings neue politische Probleme aufwirft und daher bisher nicht umgesetzt wurde. Und es gibt selbst Stimmen, die argumentieren, dass wir uns von der Idee der Zeitzone ganz verabschieden sollten. Sicher scheint also vor allem, dass die Zeitmessung ein wichtiger Aspekt unseres Lebens ist, der vermutlich noch lange immer weiterentwickelt werden wird…

 

Wenn Sie mehr zum Thema Zeiten, Daten und Kalender in der Ahnenforschung erfahren möchten, dann verpassen Sie nicht den englischsprachigen Vortrag von Andrea Bentschneider am 14 April 2023 beim vierten jährlichen "24-Hour Genealogy Webinar Marathon" mit dem Titel "Different Calendars in German genealogy".

Melden Sie sich hier kostenlos an: Öffnet externen Link in neuem Fensterhttps://familytreewebinars.com/webinar/different-calendars-in-german-genealogy/

 

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1 Kommentare

Frauke Lewin

12. August 2023

Herzliche Grüße aus der Hansestadt Wismar!

In der Deutschen Uhrmacher-Zeitung habe ich nach Spuren der Wismarer Uhrmacher gesucht. 1903 ergeht vom Wismarer Verband ein Antrag an die Großherzoglichen General-Eisenbahndirektion um geeignete Schritte zu unternehmen, damit es den sich dafür interessierenden Uhrmachern ! gestattet wird, vielleicht wöchentlich einmal auf der betreffenden Eisenbahnstation bei Eintreffen des Zeitsignals die "Richtige Zeit" abzunehmen.

Bis dahin galt wohl im inneren Dienst der Bahn die Eisenbahnzeit, im äußeren Dienst, also auf den Bahnhofsuhren, die jeweilige die Ortszeit.

Jetzt haben wir zwar die MEZ, kämpfen aber regelmäßig noch mit der Umstellung zwischen Sommer- und Winterzeit.

Wer Eisenbahner unter seinen Vorfahren hat, kann ja mal nachforschen, welcher Erfahrungen diese mit der Uhreneinstellung hatten. Viel Spaß und Erfolg bei der Familienforschung.

Frauke Lewin


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